«Dass Migration nicht kontrollierbar ist, ist ein Mythos, der in die Welt gesetzt wird von Menschen, die eine Kontrolle der Migration nicht wollen»
Europa hat es durch seine Lage beim Problem der illegalen Migration schwerer als andere reiche Regionen der Welt, sagt Ruud Koopmans. Der Humboldt-Professor plädiert für eine Lösung in Zusammenarbeit mit Drittstaaten. Dabei müsse es nicht nur um Geld gehen.
«Jährlich sterben Tausende Menschen im Mittelmeer. Und wahrscheinlich sterben noch mehr Menschen auf den Zufahrtsrouten an die Mittelmeerküste, vor allem in der Sahara», sagt Ruud Koopmans in NZZ Standpunkte. Der niederländische Politikwissenschafter und Migrationsexperte nennt das europäische Asylsystem eine «Lotterie um Leben und Tod».
Und er sieht einen Teil der Schuld bei den Europäern – «weil wir auf der einen Seite viele Menschen im Stich lassen, die eigentlich unseren Schutz und unsere Hilfe brauchen, und andererseits verlangen, dass sie eine lebensgefährliche Reise auf sich nehmen». Koopmans will das ändern, jedoch auf neuen Wegen.
Übliche Mittel wie die Seenotrettung seien zwar oft eine humanitäre Pflicht. Aber meist keine Lösung, weil sie unbeabsichtigte Folgen mit sich brächten. Dafür sorgt bereits das Kalkül der Schleuser: «Das sind kriminelle Geschäftsleute: Wenn die wissen, dass vor der Küste Schiffe der italienischen Marine oder private Seenotretter warten, dann steigen sie mit weniger seetauglichen Booten ins Meer» – mit der Folge, dass noch mehr Menschen stürben, so Koopmans.
«Man sollte die Menschen lieber gleich in den Kriegsregionen abholen»
Auch helfe die Seenotrettung nicht gegen das Sterben in der Sahara. Im Gegenteil: Sie könne den Eindruck erwecken, dass es sicher sei, das Mittelmeer zu überqueren, und so würden sich noch mehr Menschen auf den Weg durch die Wüste machen. «Dann sollte man die Menschen lieber gleich in den Kriegsregionen abholen», sagt der Experte, der an der Humboldt-Universität in Berlin lehrt und forscht.
Das gelte jedoch nur für Flüchtlinge, deren Leben tatsächlich auf dem Spiel stehe. Jeder zweite Migrant sei nämlich gar nicht asylberechtigt. Die Nigerianer etwa, die nach Europa kämen, «stammen fast alle aus dem Süden, wo es etablierte Schmugglernetzwerke gibt und wo die Bevölkerung für nigerianische Verhältnisse wohlhabend ist», so Koopmans. «Man braucht die Hilfe von Menschenschmugglern, und die verlangen sehr viel Geld.»
In den wenigsten Fällen seien dies Menschen, die vor Krieg und Verfolgung flöhen. «Sie werden oft von Familien auf den Weg geschickt, die Geld zusammenlegen, um dann die Menschenschmuggler zu bezahlen», sagt der Experte. Wenn ein Mitglied der Familie – fast immer sind es junge Männer – es nach Europa schaffe, dann solle es Geld an die Familie zurückschicken, um dieser bessere Lebensverhältnisse zu ermöglichen. «Dafür ist unser Asylregime nicht gedacht», sagt Koopmans.
Schleuserindustrie als Kernproblem
Gleichzeitig würden etwa im Nordosten Nigerias Hunderttausende Personen feststecken, die vor der Terrorsekte Boko Haram geflohen sind. «Keiner von diesen Flüchtlingen schafft es nach Europa. In dieser Region sind die Menschen viel zu arm.»
Kern des Problems ist für Koopmans die Schleuserindustrie. «Sie lebt von einem Anreiz, den wir durch das europäische Asylregime setzen, nämlich, dass wenn man einmal den Fuss auf europäischen Boden setzt oder von einem europäischen Schiff gerettet wird, man einen Anspruch hat auf ein Asylverfahren.» Zumal es in fast allen Fällen so sei, dass die Betreffenden in Europa bleiben könnten, sogar wenn die Asylgesuche abgelehnt würden.
Das europäische Asylrecht berge aber die Möglichkeit, solche falschen Anreize zu vermeiden. Etwa über das Prinzip der sicheren Drittstaaten, das besagt: Wenn Menschen über einen sicheren Drittstaat einreisen, können sie dorthin zurückgeführt werden.
Es bedarf der Zusammenarbeit mit Drittstaaten
Würde dieses Prinzip angewandt, «dann wird sich fast niemand mehr auf den Weg über das Mittelmeer begeben», sagt Koopmans. «Niemand wird sein Leben riskieren, wenn er weiss, dass er dann nicht in Berlin oder in Zürich landet, sondern in Tirana oder in Tunis.»
Offensichtlich funktioniert so etwas nur in Zusammenarbeit mit solchen Drittstaaten. Um nicht von den Machthabern einzelner Staaten abhängig zu werden, müsse man es ausserdem ermöglichen, Migranten in Drittstaaten zu bringen, über die diese gar nicht eingereist seien. Es gebe genügend Staaten, so Koopmans, die ein Interesse an entsprechenden Abkommen hätten.
Dabei müsse es gar nicht nur um Geld gehen. Die Ersetzung illegaler Migration durch legale Migration etwa sei ein Interesse, das auch westafrikanische Länder oder Balkanstaaten hätten. Diesen Ländern könnte man Tauschgeschäfte anbieten: Dafür, dass sie die Asylverfahren durchführen, bekommen sie jährliche Quoten für Arbeitsmigration ihrer eigenen Staatsangehörigen in die EU.
Drittstaaten wiederum, in denen sich viele Flüchtlinge aufhalten, wie etwa in der Türkei, könne man anbieten, legale Flüchtlinge abzunehmen, wenn sie Menschen zurücknehmen, die keinen Anspruch auf Asyl in Europa haben.
Eine solche reguläre Fluchtmigration über Kontingente würde ausserdem den Behörden in Europa mehr Planbarkeit ermöglichen und auch die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung stärken. «Dann wissen die Bürger, es kommen nur Menschen, die wirklich schutzbedürftig sind. Und die Kommunen und Länder wissen, es kommen so und so viele Leute – darauf können wir uns vorbereiten.»
Beispiel Australien zeigt: Migration ist kontrollierbar
Durch seine Lage habe es Europa zwar viel schwerer als andere reiche Regionen der Welt, räumt Koopmans ein. Umso wichtiger sei es, «dass wir etwas unternehmen, um ein gewisses Mass an Kontrolle über diese Zuwanderungsströme zu bekommen».
Dass das möglich sei, zeige das australische Beispiel. «Anfang der 2000er Jahre kamen Zehntausende Menschen irregulär nach Australien, und es starben Hunderte pro Jahr auf den Meeren.» Australien habe dann mit Drittstaaten wie Papua Neuguinea und Nauru vereinbart, dass die Asylverfahren dort stattfänden. «Die Folge war, dass es innerhalb kurzer Zeit keine Boote mehr gab, weil niemand Menschenschmuggler bezahlen wollte, um in Nauru zu landen», sagt Koopmans. «Gleichzeitig hat Australien die Aufnahme von Flüchtlingen über Kontingente und humanitäre Visa hochgefahren. So muss man es machen.»
Mit Deutschland gebe es auch ein europäisches Beispiel: Das Abkommen mit der Türkei habe sehr gut funktioniert. Selbst unter grossem Druck könne Migration kontrolliert werden, «das steht einfach fest», sagt Koopmans. «Dass Migration nicht kontrollierbar ist, ist ein Mythos, der in die Welt gesetzt wird von Menschen, die eine Kontrolle der Migration gar nicht wollen.»
Author: Regina Castaneda
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